Unerzogen leben: Kinder brauchen Steine auf ihrem Weg um Berge zu erklimmen

Wie ziemlich jede Mama möchte ich, dass es unseren Mädchen gut geht. Ich wünsche mir sie behütet aufwachsen zu sehen. Zu sehen wie sich entwickeln. Wie sie selbstständig ihr Leben bestreiten.
Auf diesen Weg möchte ich ihnen vieles mitgeben und vieles vermitteln. Wir versuchen unerzogen zu „erziehen“. d.h in Beziehung mit unseren Mädchen zu gehen. Vor allem möchte ich, dass unsere Mädchen Selbstvertrauen entwickeln und wissen was in ihnen steckt. Natürlich sollen sie auf diesem Weg so wenige wie möglich negative Erfahrungen machen. Wer will schon, dass seine Kinder leiden?

Immer wieder stelle ich fest, dass beschützen für viele mit „In Watte packen“ verwechselt wird. Genau das versuche ich nicht zu machen. Die Mädchen dürfen sich selbst erproben und auch mal auf die Schnut fliegen. Nicht weil es mir egal ist, sondern weil ich das Vertrauen in sie habe. Vertrauen, dass sie vieles erreichen können. Ohne die Hilfe von Mama, aber mit dem Vertrauen in sie.

Wie genau ich das meine? Oft lasse ich sie machen. Natürlich schütze ich sie vor Sachen, die gefährlich werden können. Ich würde sie nicht die heiße Herdplatte anfassen lassen, nur damit sie die entsprechende Erfahrung machen. Aber zusammen mit uns dürfen die Mädchen mit Messern hantieren oder den Kartoffelschäler benutzen. Auf einen Baum klettern. Über ein Bach springen. Den Berg alleine runter gehen, obwohl es wahrscheinlich damit endet, dass sie auf dem Po rutschen.

Natürlich bedeutet es in einigen Fällen mehr Arbeit für uns. Mehr sauber machen, mehr waschen, mehr Trost spenden, mehr strapazierte Nerven. Wie entspannt ich bin, hängt von meiner Laune ab. Es ist nicht immer einfach. Vor allem wenn die Nacht bescheiden war. Aber es lohnt sich in meinen Augen, denn die Kinder trauen sich mehr zu als wenn ich ständig sage: „ Mach das nicht, da könntest Du hinfallen“, “Mach das nicht, weil die frischgewaschene Hose dreckig wird“.

Und sollten sie sich doch nicht trauen, bin ich da um an sie zu Glauben und sie zu unterstützen. Um gemeinsam den Berg runter zu gehen. Um sie vom Baum runter zu holen, weil sie nicht mehr den Weg nach unten finden.
Was ich versuche zu unterdrücken (mit mehr oder weniger Erfolg), ist der Satz „ Hab ich es Dir doch gesagt!“ Diesen Satz habe ich immer gehasst und trotzdem rutscht er mir noch viel zu oft raus.

An Tagen an denen ich merke, die Mädchen sind müde, wollen aber partout keinen Mittagsschlaf machen, gehe ich schon mittags mit ihnen raus. Dann setze ich sie in den Fahrradanhänger und schiebe sie durch die Gegend. Sie dürfen aufstehen, wenn sie die Gegend erkunden wollen. Meistens wollen die Mädchen Fahrrad/Laufrad fahren. An einigen Tagen hören die beiden auf mich und lassen ihre Fahrzeuge zu Hause. Allerdings nicht an allen! Dann wird das Fahrrad mitgenommen und auf der halben Strecke heißt es „Ich habe keine Lust mehr!“ Und nun? In solchen Momentaten (an solchen Tagen) liegen die Nerven mehr als Blank.

Am Anfang versuche ich es mit Argumenten. Die nächste Stufe ist dann: Diskussion. Darauffolgend ist die „laute“ Stufe. Weiter geht es mit Weinen und Trotz. Trotz auf beiden Seiten! Ich gehe dann ein paar Schritte weiter, das Kind steht da und weint. Ich versuche es mit Rufen. Ratet mal wie gut es funktioniert. Genau! Gar nicht… Aber ich lerne ja nicht dazu. Es wird nicht besser.

Nach einer gefühlten Ewigkeit gehe auf sie zu und sie fängt an sich auf mich zu zubewegen. Sie sagt, sie sei kaputt und möchte dass ich das Fahrrad nebst dem beiden Mädchen schiebe. Leider kann ich das auf Grund meiner Verfassung bzw. auf Grund von meinem einschlafenden Arm nicht. Also wird weiter geweint. Es wird jetzt aber wenigstens langsam das Rad geschoben. Ich streichle den Rücken und versuche die Bemerkung zu unterdrücken „ ich habe es dir gleich gesagt“. An manchen Tagen mit weniger Erfolg.

Zuhause angekommen möchte das müde Kind basteln. Obwohl ich genau weiß, es könnte auf Grund der Müdigkeit in Chaos und Ärger enden, setze ich mich hin und rolle mit Ihr Kerzen. Diverse Platten gehen kaputt, weil es an einem solchen Tag auf beiden Seiten an Geduld fehlt. Trotzdem lasse ich sie machen, weil ich das Vertrauen in sie habe, dass sie es schaffen wird.

Und genau das ist für mich persönlich unerzogen.

Nicht dass ich das Fahrrad meines Kindes nach Hause schleppe, sondern, dass ich das Kind durch den Frust und durch die Wut begleite.

Mal mit mehr mal mit weniger Geduld und Verständnis. Aber ich weiß, dass z.B. die Bemerkungen oben nicht in Ordnung sind. Sie dürfen uns nicht auf „ der Nase“ rumtanzen. Aber ich möchte sie nicht in ihrer Wut oder ihrem Frust alleine lassen. Sie soll wissen, dass sie immer geliebt wird! In solchen Situationen bestärke ich sie dann, dass sie es z.B. nach Hause schafft oder dass sie die Wachsplatte selbst gerollt bekommt.

Am Ende lernen wir beide daraus.

Eure Evi aus dem Norden

Unerzogen leben: Artikel dazu findet Ihr hier

5 Kommentare

  1. Hallo Evi,

    Vielen Dank für diesen tollen Artikel.

    Unseren Erziehungsstil würde ich nicht als unerzogen betiteln, trotzdem ist vieles was du beschreibst unser Alltag.
    Kinder ausprobieren lassen, eigene Erfahrungen zugestehen und liebevoll aus schwierigen Situationen begleiten, dass ist uns wichtig und ich denke das macht uns und unsere Kinder am Ende des Tages glücklich.

    Viele Grüße
    Mama Maus

    1. Liebe Mama Maus,

      ehrlich gesagt glaube ich, dass vielen dieses “ Unerzogen“ leben. Nun nennen sie es anders. Bei unerzogen geht es nicht darum, dass den Kindern alles durchgehen lässt. Es geht darum, dass man ihnen nicht das Gefühl vermitteln, Du bist nur dann gut, wenn Du das machst was ich von Dir verlange.

      Liebe Grüße
      Evi

  2. Liebe Evi aus dem Norden ?, was für ein toller Beitrag! Treffend, gut verständlich und nachvollziehbar in dem, was du meinst und vor allem (was ich immer wieder absolut sympathisch finde) schonungslos ehrlich! Vielen Dank dafür.
    Ehrlich gesagt habe ich bei der Schilderung eures Spaziergangs sehr lachen müssen – denn das könnte auch absolut ich und meine Kids gewesen sein (ertappt!?). Und im Grunde wissen wir doch alle, was in der Situation richtig oder sinnvoll wäre, aber manchmal fehlt auch einfach die Kraft, Nerven, Energie, Zeit …um „pädagogisch richtig“ zu handeln. Aber ich finde das auch nicht schlimm, solange man nicht aus den Augen verliert, was man tun möchte (auch wenn man es grade selbst nicht schafft – wegen Zeitdruck, Müdigkeit etc.). Und wenn man es dann trotzdem schafft, die „Gefühlsausbrüche“ der Kleinen auszuhalten und einen gemeinsamen Weg zu finden – umso besser. Und für die Male, an denen es nicht wie gewünscht klappt…was soll’s? Dann beim nächsten Mal und ausserdem…die Kids dürfen auch wissen, dass es auch der Mama nicht immer gleich gut geht und sie vielleicht auch mal bockig sein darf, oder ??
    Im übrigen weiss ich nicht, wie „mein“ Erziehungsstil ist, denn ich habe mir darüber bislang keine Gedanken gemacht. Ich handle nach Gefühl, denke aber auch wie du, dass die meisten wahrscheinlich schon diesen „unerzogenen“ Stil leben – zumindest in Teilen (so wie ich wohl auch). Wobei ich die Bezeichnung „unerzogen“ echt ungünstig finde, denn jeder assoziiert gleich damit was schlechtes. Allein, dass man heute viel mehr mit Kindern spricht, erklärt, entscheiden lässt und diskutiert als früher, zeigt das ja. Ich gebe meinen Kindern schon Grenzen (ich nenne es auch oft Leitplanken), denn ich persönlich finde, dass Kinder das auch brauchen, um sich einfach besser orientieren zu können in dieser Welt umd im miteinander mit anderen. Aber innerhalb dieser Leitplanken dürfen und sollen sie sich frei bewegen und es ist spannend zu sehen, was sie daraus machen (auch wenn ich dann manchmal an meine persönlichen Grenzen stoße ?). Also wie gesagt, danke Dir und weiter so! Grüsse von Natascha aus dem Süden ?

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